Sergiu lief ungeduldig im Warteraum auf und ab, als Liana die Tür der Intensivstation öffnete. Nach den strengen Vorschriften musste sich Sergiu sterile Kleidung überziehen sowie seine Schuhe im Umkleideraum zurücklassen.
»Sergiu. Wenn Traian aufwacht ...« Liana führte ihn den langen Flur entlang, dabei suchte sie nach dem richtigen Anfang. »Die Schäden, die die Implantate verursacht haben, sind nicht reparabel. Der Shunt war mit Sicherheit nicht zur Entwässerung gedacht.«
Sergiu blieb stehen. »Was zum Henker willst du mir sagen?«
Liana schaute ihm ins Gesicht. »Traians Gehirn weist verschiedene Schäden auf. Unter anderem wurden sein Sehzentrum sowie sein Sprachzentrum verletzt. Traian wird kein normales Leben mehr führen können.« Liana spürte erneut Tränen in ihren Augen. Nur dieses eine Mal wünschte sie sich, mit der Forschung schon weiter zu sein und Traian wieder zurück zu bekommen.
»Kein normales Leben?« Sergiu schluckte. »Auf was muss ich mich gefasst machen?«
Liana ging auf die Tür zu. »Genaueres kann ich erst sagen, wenn er bei Bewusstsein ist. Er wird blind sein.« Sie wollte ihre Prognosen nicht ausmalen, das schmerzte sie zu sehr. »Inwieweit seine Motorik noch funktioniert, ist fraglich.« Sie öffnete die Tür.
Sergiu ging zwei Schritte in den Raum. »Doamne dumnezeule! Wo ist da noch die Würde des Menschen ... ich meine des Vampirs? Verdammt, was haben wir getan?«
Liana empfand es als tröstlich, zu wissen, dass auch Sergiu ähnliche Gedanken verfolgte. »Nicht wir. Sie haben ihm das angetan. Die Blutung, die er sich gestern zugezogen hat, war nicht das Problem. Die konnte ich stoppen.« Sie musste schlucken. »Ich vermute, dass er schon seit längerem massive Sehstörung gehabt haben muss. Eigentlich ist es unbegreiflich, dass er mit diesem Hirnschaden überhaupt allein zurecht kam.«
Sergius Hand zitterte, als er Traians Arm berührte. »Wie soll ich das seinem Onkel erklären? Seit sieben verdammten Jahren wartet er auf eine Nachricht. Gestern schien er doch ganz fit.« Er sah zu Liana. »Vielleicht irrst du dich ja?«
Liana spürte, wie sie gegen die Tränen kämpfen musste. »Oh Sergiu! Was würde ich alles dafür geben?« Lianas Piepser ging los. »Entschuldige bitte, ich muss in den OP.«
Am Abend kam Victor in die Klinik. Sergiu hatte ihn zu Hause auf die Situation vorzubereiten versucht. Aber der Anblick, wie Traian zwischen den Schläuchen und Kabeln vor ihm lag, warf ihn aus dem Gleichgewicht. Dies passte nicht in seine Weltanschauung von Gleichgesinnten. Ein Vampir hat sich nicht in ein Krankenhaus zu legen, um seine Lebensfunktionen schnaufenden Maschinen zu überlassen. Er spürte, wie sich sein Hals verengte. Nur mit großer Mühe gelang es ihm, Traian nicht augenblicklich von all der Technik zu befreien. Lediglich das Vertrauen zu Liana hielt ihn davor zurück.
Er stellte sich neben das Bett, dabei atmete er schwer. »Du hättest uns in Popescu eine Chance geben sollen Freunde zu werden. Sieh dich an, Luca Traian Constantinescu. Ein Häufchen Elend ist aus dir geworden. Nicht tot und noch weniger lebendig. Hatte ich dir doch erklärt, wie die Selbstheilung ausgeführt wird. Ein Vampir sollte so etwas nicht vergessen! Ionut, deinem Onkel ... was soll ich ihm sagen, Luca?« Victor schluckte heftig. »Entweder beginnst du zu kämpfen, wie sich das für einen Vampir gehört oder ich werde in drei Tagen dieses Desaster hier beenden. Ich werde sämtliche Technik entfernen, vor allem diese Maschinen abstellen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, Luca Traian Constantinescu?« Der Kloß in seinem Hals wurde zu mächtig. Victor meinte, in diesem Raum keine Luft atmen zu können.
In der Cafeteria ließ er sich ein Glas Rotwein bringen. Er zweifelte, ob er wirklich drei Tage warten oder besser gleich seine Drohung wahr machen sollte.
»Victor.« Liana setzte sich an seinen Tisch. »Ich habe dich nur zufällig hier gesehen, warum hast du nicht angerufen?«
Victor rieb sich über die Stirn. »Das habe ich. Eine Schwester meinte, du würdest schlafen. Da bat ich sie, dich nicht zu stören.«
Liana lächelte. »Ach, Unsinn.« Jetzt machte sie ein ernstes Gesicht. »Warst du schon oben?« Victor nickte nur und nahm einen Schluck Wein. »Ich weiß nicht, inwieweit dich Sergiu aufgeklärt hat.«
Seine Wut ließ sich nicht mehr zügeln. »Aufgeklärt? Über Luca, der nicht mehr sehen und nicht sprechen kann? Über ein hilfloses Häufchen, das nicht mal allein in der Lage sein wird, seinen natürlichen Bedürfnissen nachzukommen?« Liana konnte ja nichts dafür und doch musste Victor diese Wut loswerden.
Liana legte ihre Hand auf Victors Rechte. »Wir müssen zunächst abwarten. Die Operation hat sehr lange gedauert und ist noch keine vierundzwanzig Stunden her. Im Grunde bin ich froh, dass er noch nicht aufgewacht ist. Seine Schmerzen werden nicht gering sein. Außerdem fürchte ich mich vor Panikattacken, wenn ihm bewusst wird, dass er sich in einem Krankenhaus befindet.«
Victor senkte seinen Kopf. »Ich will nicht, dass er weiter leiden muss.«
Jetzt ergriff Liana seine Hand. »Meinst du vielleicht, ich möchte, dass sich der Mann, den ich über alles liebe, quälen muss? Wirklich jede Möglichkeit, die in meiner Macht stand, habe ich ausgeschöpft. Aber diese Mikrochips haben Teile seines Gehirns verletzt, damit sind die betroffenen Bereiche unwiederbringlich zerstört worden.« Liana knetete seine Hand. Zwei ihrer Tränen klatschen darauf. »Um Traians Gesundheit wieder herzustellen, würde ich bei Gott alles geben.« Sie presste kurz die Lippen aufeinander. »Durch den Shunt hatte man ein dünnes Kabel gezogen. Was Traian hinter sich haben muss, liegt außerhalb von dem, was wir uns beide zusammen vorstellen können.«
»Ja, das ist wohl wahr.« Victor spürte, wie eine Gänsehaut seinen Körper überzog. Er flüsterte. »Wenn er leidet, wirst du ihn erlösen?« Er konnte das Entsetzen in ihrem Gesicht ablesen.
Liana schnappte nach Luft. »Erwartest du das von mir?« Ihr entsetzter Unterton verdeutlichte Victor, dass Liana als Ärztin dafür der falsche Ansprechpartner war. Obendrein liebte sie Traian. Aber gerade deswegen sollte sie ihn nicht leiden lassen.
»Nein. Aber du wirst es mir sagen, nicht wahr?« Er hätte diese Worte unter Hypnose vermitteln können, aber so viel Ehrlichkeit traute er Liana zu.
Sie nickte, schien dabei zu überlegen. »Großes Vampirehrenwort.« Ihr Piepser meldete sich. »Entschuldige mich.«
Liana wartete vor den Fahrstühlen. Plötzlich verspürte sie eine eisige Kälte. Alle Aufzüge befanden sich auf der siebenten Etage. Die magische Sieben! Ohne weiter nachzudenken, folgte sie dem Instinkt, jagte die Stufen der fünf Stockwerke nach oben, dann den Flur entlang. Unregelmäßiges Piepsen des EKGs hallte bis auf den Flur.
Die Tür zu Traians Zimmer stand offen. Drei Schwestern versuchten, seinen zuckenden Körper festzuhalten. Auch wenn Liana der Anblick sehr zusetzte, dafür blieb jetzt keine Zeit. Schnell musste eine Entscheidung getroffen werden. Sie griff nach einem krampflösenden Therapeutikum, um es in den Infusionsschlauch, über die Traian mit Flüssigkeit und schmerzstillenden Medikamenten versorgt wurde, zu spritzen. Zur Stabilisierung des Herzrhythmus verabreichte sie erneut Lidocain.
»Wann hat das angefangen?« Bisher zeigte Traian keine Veränderung. Sein ganzer Körper schien von heftigen Stromstößen gequält zu werden.
»Vor genau fünf Minuten.« Die Schwester versuchte Traians Kopf festzuhalten, damit die frischen OP-Nähte mit den Drainagen nicht aufplatzten. Das war kein gutes Zeichen. Liana fragte sich, ob sie während der OP etwas übersehen hatte. Traian durfte nicht leiden, das wollte sie doch verhindern. Sie kämpfte mit sich, was sie tun sollte. Dieser Anblick wühlte sie zu sehr auf. Letztlich griff sie zur zweiten Ampulle dieses starken Medikamentes. Nach zwei Minuten zeigte er endlich eine Besserung. Liana wischte sein nassgeschwitztes Gesicht trocken. »War er wach?«
Die Schwester ordnete das Durcheinander auf dem Bett um Traian herum. »Nein.« Sie zog das Laken über seinen Körper zurecht. »Zuerst sah es nach einem Herzstillstand aus, dann setzte der Anfall ein.«
Das war noch mal gutgegangen. »Danke. Ausgezeichnete Arbeit.« Liana blieb allein zurück, während die Schwestern das Zimmer verließen. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie bei Victor gewesen war und nicht hier, an seiner Seite, wo sie gebraucht wurde. Sie nahm sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich neben ihn. Sie legte ihre Hand auf seine, an die Stelle, wo keine Kanüle in seinen Adern steckte und keine Gefahr bestand, ihm unnötig Schmerzen zu zufügen. Seit sie im Potsdamer Wald den Moment seiner Entführung hautnah miterlebt hatte, fühlte sie sich sehr stark mit ihm verbunden. Umso belastender empfand sie es, ihn in einer solchen Situation zu wissen. Wodurch konnte dieser Anfall ausgelöst worden sein? Eventuell waren es die schmerzstillenden Medikamente. Traian reagierte womöglich empfindlicher als Menschen.
Sie drosselte an der Infusion die Schmerzmittelzufuhr. »Im Moment wirst du vermutlich gar nichts spüren. Dein Körper ist mit so viel Chemie vollgepumpt, dass ich Angst habe, dass deine Nieren versagen.« Eine furchtbare Vorstellung. Sie schaute kurz auf den EKG-Monitor, verfolgte die Kurven. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn vor sich, lebendig und voller Lebenskraft. Nie wieder würde er so vor ihr stehen. Diese Überlegung bohrte sich als brennender Schmerz in ihr Herz. Sie spürte, wie ihr die Tränen die Wange herunterrannen. Ihre Hand blieb liegen, denn er sollte sie spüren können.
Liana sah auf seine Augenpartie. Die tiefen roten Ringe unter seinen Augen sahen aus, als hätte jemand mit Sandpapier die oberste Hautschicht abgetragen. Das würde bald vergehen, auch seine unnatürlich blasse Hautfarbe. Trotz dieser Umstände hatte sein Gesicht nichts an Anziehung verloren. An seinen dichten Wimpern, an seinen dunklen Augenbrauen konnte sie sich nicht sattsehen. Sie wünschte sich neben dem Klebeband seine schwungvollen Lippen zu küssen, doch sie fürchtete sich davor, dass ihr innerer Schmerz dabei schlimmer werden würde. Ihr Blick fiel auf seine kräftige Brust. Durch die Beatmungsmaschine füllten sich seine Lungen, bewegten seinen Brustkorb mit den Klebeelektroden des EKGs darauf auf und ab. Wie schmal sein athletischer Bauch dagegen wirkte. Sie fühlte den Stich der Wahrheit in ihrem Herzen. Mit jedem Tag, den er hier lag, baute sein Köper weiter ab. Auch wenn er jetzt aufwachen würde, war es unwahrscheinlich, dass er jemals wieder in Form kommen könnte. Liana sprang auf, als sich die Tür öffnete.
Victor sah zuerst zu Traian, »ist so weit alles in Ordnung?«, danach zu Liana. Sie nickte kurz, hielt es für besser, nichts von dem Anfall von eben zu erzählen. Seine Frage aus der Cafeteria beunruhigte sie.
Die nächsten beiden Tage konnte Liana die Drainagen nach und nach entfernen, was Traians Anblick erträglicher machte. Ansonsten glaubte sie, auf der Stelle zu stehen. Langsam sollte er zu sich kommen, doch sein Zustand zeigte so gar keine Veränderung. Wiederholt traten Herzrhythmusstörungen auf. Liana begann in Betracht zu ziehen, dass die Entfernung der Mikrochips mehr Zellen zerstört hatte, als sie bislang angenommen hatte. So schwer ihr die Überlegung fiel, doch sie musste sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es für Traian keinen Weg aus dem Koma gab. Sergiu besuchte Traian meist am Vormittag, Victor am Abend und blieb, solange es dunkel war. Liana war nur ein Mal für sechs Stunden zum Schlafen nach Hause gefahren. Auch wenn sie keinen Dienst hatte, wollte sie in Traians Nähe bleiben, jeden denkbaren Augenblick für ihn da sein, ihn spüren lassen, dass sie ihn nicht im Stich ließ.
Gegen 21:00 Uhr fuhr Victor zur Intensivstation. Er hatte Liana in der Cafeteria über einen Kaffee sitzen sehen. Müde sah sie aus. Kein Wunder, sie wich ja kaum von Lucas Seite. Wie gut, dass sie ihn nicht gesehen hatte und er jetzt allein mit Luca sein konnte.
»Ich komme heute ein letztes Mal zu dir, Luca Traian Constantinescu.« Er stellte sich an das Bettende. »Ich gab dir drei Tage. Ich sehe nicht die geringste Bemühung von dir zu kämpfen. Morgen wird nichts anders sein.« Victor spürte einen lästigen Kloß im Hals, er musste schlucken. »Wenn du leben willst, zeige es mir jetzt. Sonst ist dein Schicksal besiegelt.« Victor wartete auf eine Veränderung, auf ein Zeichen. Wie lange sollte er warten, vor allem worauf? Glaubte er wirklich, dass Luca etwas wahrnahm? Lianas Prognosen klangen so entsetzlich düster. Victor trat neben das Bett. Mit seinen Daumen und Zeigefingern riss er Lucas Augenlider auseinander. Er erschrak. Das Weiß in den Augen war teilweise blutig. Es sah zum Fürchten aus, dennoch meinte Victor, Luca würde ihn anstarren. »Du wirst jetzt eine Selbstheilung durchführen, so, wie ich es dir in Popescu beigebracht habe. Dann wirst du diesen medizinischen Scheiß hier zurücklassen und ein sinnvolles Leben beginnen.« Victor atmete tief. »Genau das wirst du tun, Luca Traian Constantinescu.« Er richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf Luca.
»Victor? Was tust du da?« Liana stand unerwartet hinter ihm.
Victor versuchte, gelassen zu wirken. Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen, doch Luca, einen Vampir, einen Gleichgesinnten hier an diesen Maschinen zu wissen, brachte ihn um den Verstand. »Ich wollte ihm in die Augen sehen, ihm sagen, dass er kämpfen muss.«
Liana legte eine Hand auf seine Schulter. »Er kämpft schon lange um sein Leben, Victor. Das tat er bereits an dem Tag, als man ihn mit seinen Eltern entführt hat.«
Nur änderte es nichts daran, dass er mit dieser Situation nicht klar kam. »Ja. Du hast recht.« Unumstößlich stand für ihn fest, dass er besser heute, spätestens aber morgen Luca erlösen musste.
Liana nahm ihre Hand zurück. »Ist mit Veit alles in Ordnung?«
Victor rieb sich die Stirn. »Ja. Der arme Kleine bekam von der Oma furchtbare Breie und andere unblutigen Speisen. Da würde wohl jeder Vampir streiken. Sergiu hat ihm einen guten Schluck Rinderblut gegeben, schon ging es ihm besser.«
»In deinen Händen ist Veit vermutlich am besten aufgehoben.« Liana streichelte Luca über die Wange. »Ich habe die Schmerzmitteldosis gesenkt. Ich möchte nicht riskieren, dass seine Nieren versagen.«
Was sagte Liana da?
Victor fühlte das Entsetzen in seinem Gesicht. »Er bekommt Schmerzmittel?« Das durfte doch nicht wahr sein.
»Natürlich! Was glaubst du denn? Die Kopfhaut aufschlitzen und den Schädel auseinander sägen verursacht schon massive Beschwerden.«
Er hätte Luca niemals einem Menschen überlassen dürfen. Liana hatte keine Ahnung, was sie damit anrichtete. Victor packte sie fest an den Schultern. »Luca ist ein Vampir. Du kannst seinen empfindsamen Körper nicht mit dieser Chemie vollstopfen.«
Sie hob ihre Stimme an. »Großartig! Vielleicht könntest du ja ein Semester Vampirkunde im Medizinstudium anbieten.« Ihre Augen funkelten. »Auch du wolltest ihn nicht leiden sehen.« Sie sprach ruhig weiter, schwenkte ihren Blick in Lucas Gesicht. »Ich kann nicht mal sagen, inwieweit er überhaupt etwas wahrnimmt.«
Das erklärte jedenfalls, warum Lucas Zustand sich nicht veränderte, wieso er nicht in der Lage war, eine Selbstheilung durchzuführen. Victor ging um das Bett und griff nach den drei Infusionsflaschen. »Welche ist es?« Ein entsetzlicher Gedanke einem Vampir mit Medikamenten seine Sinne zu rauben.
Menschen!
»Bitte lass das.« In Lianas Augenwinkel sammelten sich Tränen. Victor konnte nicht warten, bis Liana begriff, wie schädlich das Zeug für Vampire war. Er nahm eine Schere und durchtrennte alle drei Schläuche, die in Lucas Handrücken in einer Kanüle steckten. Liana eilte sofort auf ihn zu, versuchte ihm die Schere zu entreißen.
»Du bringst sein Leben in Gefahr. Hör auf damit!« Ihre Hände festzuhalten war ein Kinderspiel. Sie konnte sein Vorhaben nicht behindern.
»Ha! Sein Leben? Wo bitte ist außer uns beiden hier ein Leben? Ich sehe nur eine Maschine, die einen leblosen Körper gefangen hält und ihn nicht gehenlässt. Wie soll Lucas Seele Freiheit finden?« Sie verstand das als Mensch einfach nicht.
»Bitte Victor! Es ist noch zu früh, um ihn aufzugeben.« Augenblicklich musste er hier raus. Morgen würde er dieses Unglück beenden.
Liana schaute Victor nach. Sie konnte nicht nachvollziehen, was in ihm vorging. Andererseits gab es in ihrer bisherigen Laufbahn als Ärztin lediglich menschliche Patienten. Von Vampiren verstand sie vermutlich wirklich nichts. Nach Traians Anfall hatte sie selbst gezweifelt, letztlich die Schmerzmittel dafür verantwortlich gemacht. »Du kannst seinen empfindsamen Körper nicht mit dieser Chemie vollstopfen«, wiederholte Liana innerlich Victors Worte. Sie fühlte sich zerrissen. Einerseits forderte ihr medizinisches Wissen auf dem bisherigen Weg zu bleiben, während ihr Gefühl sich an Victors Aussage klammerte. Sie begann aufzuräumen, das von Victor verursachte Chaos in Ordnung zu bringen. Sollte sie wirklich die Medikamente absetzen? Einige Minuten kämpfe ihr Verstand gegen ihr Bauchgefühl. Letztlich siegte ihr Instinkt. Sie entfernte die zwei Infusionsschläuche. Die Kochsalzlösung, die Traians Körper mit Flüssigkeit versorgte, legte sie wieder an. Danach nahm sie Traians Hand. »Verzeih mir, wenn ich etwas falsch gemacht habe.« Sie presste die Lippen aufeinander. Ein schlechtes Gewissen machte sich breit, mehr Schaden angerichtet zu haben, als Hilfe.
Traian! Er würde ihr niemals mehr in die Augen sehen können, ihr nie mehr erzählen, was ihn bedrückte, sie würde niemals wieder seine Stimme hören. Das war ziemlich bitter, zumal das vermutlich lange nicht alle Einschränkungen waren. Dennoch war es allemal erträglicher, als ihn ganz zu verlieren. »Victor mag dich aufgeben. Ich glaube fest daran, dass du es schaffst.« Ihre Finger streichelten seinen Arm entlang. »Du wirst es ihm schon zeigen, nicht wahr?« Eine Weile blieb sie still sitzen, ließ die letzten Tage Revue passieren.
»Ich liebe dich, Traian. Die wenige Zeit, die wir miteinander verbringen durften, waren die glücklichsten Augenblicke meines Leben.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt sollte sie ihn im Auge behalten, wie er auf die Absetzung der Medikamente reagierte. Sie schob seine Augenlider zurück. Beide Pupillen zeigten sich extrem geweitet, von der Iris ahnte man nichts mehr. Im ersten Moment fielen ihr zwei Möglichkeiten ein. Entweder war sein Hirndruck gestiegen, in dem Fall hatte sie die Drainagen zu früh entfernt, oder dies waren Anzeichen einer Vergiftung.
Vergiftung?!
Hatte Victor Traian ein Gift verabreicht, bevor sie den Raum betreten hatte? Nach seinem Auftritt eben traute sie ihm das zu.
»Oh, nein!« Sie warf sich die Hand über den Mund. Nun musste sie genau abwägen, was zu tun war. Aber solange sie nicht wusste, was Victor Traian gegeben hatte, konnte sie wenig unternehmen. Die Pupillenerweiterung sprach dafür, dass Traians Körper bereits auf die Substanz reagierte und sie sich längst in seinem Blutkreislauf verteilt hatte. Liana stockte der Atem. »Luca ist ein Vampir« hallte die Aussage von Victor in ihrer Erinnerung wider. Vampire brauchten Blut. Eine Vollblutkonserve musste ihm jetzt helfen und wenn sie nur das Toxikum verdünnte.
Während die Blutkonserve in Traians Vene lief, beobachtete Liana abwechselnd den EKG-Monitor sowie sein Gesicht, seine leicht hervorstehenden Wangenknochen, die ihn so anziehend machten. Sie streichelte darüber und stellte sich in Gedanken vor, wie er jeden Moment seine Augen öffnete. Dann würde sie ihn beruhigen, falls ihn seine Dunkelheit in Panik versetzte. Sie könnte sanft auf ihn einreden, seine Hand nehmen und ihm verdeutlichen, dass sie immer für ihn da sein wollte. Doch wie sollte es dann weitergehen? Traian brauchte rund um die Uhr Pflege. Sie musste ihren Beruf aufgeben, um an seiner Seite zu bleiben, aber wer kam für die Kosten auf? Mit diesem Gedanken fiel ihr Blick auf die restliche Blutkonserve mit dem Aufkleber ›AB neg‹. Sie dachte an Veit, der die gleiche Blutgruppe mit einem Negativ-Merkmal aufwies. Sergius Vermutung fand damit ein weiteres Indiz, Traian war der Vater von Veit. Ob Traian das gewusst hatte? Womöglich hasste er Veit, weil er ihn immer an den Keller, an die Versuche erinnerte. Liana prüfte seinen Blutdruck, überprüfte erneut seine Pupillen. Gott sei Dank zeigte er keine weiteren Anzeichen einer Vergiftung. Sie hatte Victor zu unrecht verdächtigt, was aber bedeutete, dass die Pupillenerweiterung auf einen erhöhten Hirndruck zurückzuführen war. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Sie hatte die Entfernung der Drainagen zu früh angeordnet. Aber nichts weiter deutete auf ihre Vermutung hin. Eventuell lag es wirklich daran, dass Traian ein Vampir war und seine Pupillen nicht normal reagierten. In der Dunkelheit verfügte er über ein wesentlich besseres Sehvermögen, als sie. Lebhaft war ihr die Wahrnehmung ihrer Vision aus dem Potsdamer Wald noch in Erinnerung.
Aber das war vorbei. An Traians Blindheit konnte niemand mehr etwas ändern. Fast eine Stunde wanderte Liana im Zimmer auf und ab. Immer wieder dachte sie an Victor, an seine Reaktion bezüglich der Medikamente. Seit sie alles abgesetzt hatte, schlug Traians Herz ruhig und gleichmäßig.
Sie musste umdenken, von Mensch auf Vampir. Schließlich traf sie eine Entscheidung. Sie löste den Tubus vom Beatmungsgerät. »Komm schon Traian, du schaffst das.« Sie nahm seine Hand, knetete sie ein wenig. »Du brauchst keine menschliche Technik, um zu leben.« Ungewöhnlich still war es jetzt, nur das leise Piepsen des EKG-Monitors hallte durch den Raum. Liana kamen Zweifel. Das war der falsche Weg, den sie gehen wollte.
Das funktionierte nicht.
Der Abstand seiner Herztöne wurde länger. Eine endlos lange Minute verging. Traian holte Luft. Selbständig. Er atmete. Liana schloss die Augen und drückte noch einmal seine Hand. Ja! Ein großartiger Fortschritt. Nun musste es mit ihm aufwärtsgehen. Sie küsste ihn auf die Stirn, während ihre Hände auf seinen Wangen lagen. »So ist es gut. Ich weiß, dass du es schaffst. Du bist doch ein Kämpfer!« Mit Tränen der Freude in den Augenwinkeln schmiegte sie ihre Wange an seine und genoss den Moment der richtigen Entscheidung, des Vorankommens.
Kurz danach kam die Nachtschwester ins Zimmer. Liana konnte sich ihrem Befehl, sich hinzulegen, nicht widersetzen. Zu müde und erschöpft fühlte sich Liana. Ja, sie brauchte wirklich einen Augenblick Ruhe. Sie schlief tatsächlich fest ein, erwachte erst gegen 19:00 Uhr.
Zuerst musste sie zu Traian. Es tat unglaublich gut, ihn ohne die ganze Technik zu sehen, vor allem aber schenkte ihr dieser humane Anblick Hoffnung, dass Traian bald zu sich kommen würde. Seine Pupillen waren noch immer extrem geweitet. Seine selbständige Atmung, sein regelmäßiger Herzschlag stimmte sie dennoch zufrieden. Sogar seine roten Augenringe begannen zu verblassen. Ein paar Minuten später musste sich Liana vor Prof. Dr. Silvanus rechtfertigen, warum sie nicht nach Hause fuhr und die Ruhezeiten einhielt. Die Verantwortung für völlig übermüdete Ärzte, die eine Gehirnoperation gewissenhaft ausführen sollten, wäre nicht tragbar. Liana konnte diesmal nicht widersprechen und versprach, noch heute Nacht nach Hause zu fahren, um sich auszuschlafen.